die literarische herberge

Von Juni 2003 bis April 2004 ist unsere Freundin Ulrike aufgebrochen die Welt zu entdecken: Australien, Kambodscha, Vietnam. Mit ihren Reiseberichten hat sie unser Fernweh genährt, aber vor allem hat sie uns von der Welt erzählt - und von ihren Abenteuern, immer aufregend, detailverliebt und immer wieder mit einer clownesken Ader, die ich vorher bei Ulrike nicht gekannt bzw. entdeckt hatte.

 

Zunächst galt es für Ulrike aber vor der Reise, aus finanziellen Gründen ihr  WG-Zimmer im PrenzlBerg aufzugeben und einen Unterschlupf für Schrank, Stuhl und Kaffeekanne zu finden. Für Ulrikes Bücher war geplant, diese in einem Keller in Dornröschenschlaf zu schicken. Oh Schreck - Bücher und Kellerfeuchtigkeit - was für eine unschöne Mischung für uns Bücherfreunde!!! Nicht ganz uneigennützig boten wir Ulrike an, ihre Bücher bei uns einzulagern. Ein Regal unterm Fenster war schnell gezimmert und kurz bevor es aufging in die Weite, fanden ein paar Kisten voller Bücher - neue, alte, englische, deutsche, zerrupfte und kunstvoll gestaltete, klassische und moderne, eine Herberge für ein Jahr.

 

Was für eine Fundgrube!! Ich hatte mir vorgenommen, so viele wie möglich dieser Bücher zu lesen, zu genießen und - um später selber eine Erinnerung an das eine oder andere Buch wachrufen zu können - eine kurze Beschreibung und/ oder Bewertung zu schreiben. Heute, ein Jahr später, liegt die folgende Sammlung kürzerer und längerer Kurzbeschreibungen vor. Ich hatte großen Spaß beim Lesen und Bewerten, nie war es mir eine Last. Denn ich habe so teilweise Bücher in die Hand bekommen (und lesen dürfen!), für die ich mich sonst nicht interessiert hätte - und wurde oft belohnt. Aber es gibt auch das eine oder andere Buch, von dem ich abraten möchte. Ulrike hat ihre Bücher zur Herberge gegeben und sie haben dort Freunde gefunden, die sich gern ihre Geschichten angehört haben. Ich möchte Dir Ulrike an dieser Stelle dafür danken.

 

Die Reihenfolge der Beschreibungen ist allein durch die zeitliche Abfolge des Lesens entstanden.

 

Max Goldt | Ä | *

Teilweise recht vergnüglicher außenstehender Blick auf die kleinen Dinge des Lebens - aber größtenteils nur ärgerlich, wie Goldt zynikertypisch einfach alles runtermacht (außer natürlich sich selbst und die eigene Art zu leben ..). Ich hätte mir stellenweise entschieden mehr Selbstironie gewünscht.

 

Armistead Maupin | Stadtgeschichten Bd. 1 | ***

100 kleine Episoden aus dem sonnigen San Francisco, deren Protagonisten sich in un-erwarteten Situationen und Konstellatio-nen immer wieder über den Weg laufen. Hat mich ein wenig an Couplands Genera-tion-Romane erinnert. Unterhaltsam.

 

Bernhard Schlink | Der Vorleser | *****

Große Literatur mit unerwarteten Wendungen. Wunderbares Gespür des Autors für Stimmungen, menschliche Eigenschaften und Schwächen und eine durchdachte Geschichte. Sehr lesenswert.

 

Paul Auster | Timbuktu | ***

Paul Auster beweist immer wieder sein menschliches Einfühlungsvermögen für das tiefst innerste, für die Wegscheiden des Lebens. Bei A. geht es immer ums Ganze. In diesem Buch hatte ich jedoch wieder einmal Probleme zu erkennen, womit der Autor, der Protagonist gerungen hat. Komm zur Sache Paul!!

 

David Guterson | Schnee, der auf Zedern fällt | *****

Der Mord an einem Fischer und der anschließende Prozess gegen den mutmaßlichen Mann japanischer Abstammung - nur der Rahmen des vorliegenden Buches. Es geht um mehr, um viel mehr. Guterson reiht auf der Perlenschnur dieser Geschichte eine Vielzahl persönlicher Schicksale und Episoden und beweist seinen tiefen Blick in die menschliche Seele. Nahrung für Geist und Seele. Herausragend.

 

Anna Seghers | Transit | ***

Nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich sind Zigtausende auf der Flucht Richtung Süden, unter ihnen viele Deutsche, denen das KZ droht. Sie sammeln sich im unbesetzten Marseille und drehen sich im Kreis auf der Jagd nach Ausreisevisa, Durchreisevisa, Einreisevisa ... Nicht ganz leicht zu lesen; die Thematik der "Re-fugies" ist Remarque-Lesern weitgehend bekannt.

 

Hermann Hesse | Unterm Rad | ****

Wieder mit profunder Menschenkenntnis geschriebene Erzählung über einen Jungen, der am Ehrgeiz seiner Förderer und dem Anspruch seines Vaters zerbricht und der so seine Jugend über das Streben nach höherer Bildung verschenkt, "unters Rad" kommt. Bewegend.

 

Jhumpa Lahiri | Melancholie der Ankunft | *****

Kurze, aber große Geschichten über das Leben. Inder in Indien, England und USA. Menschen, die ankommen, Menschen die gehen, Menschen, die (n)irgendwo zu Hause sind. Absoluter Tiefgang - un-glaublich, welche Lebensweisheit diese junge Frau in Worte gefasst hat. Weiter so!!

 

Ildikó von Kürthy | Mondscheintarif | ***

Wir erfahren viel, wenn nicht alles, was eine Frau denkt und tut, so sie auf den Anruf eines (bestimmten) Mannes wartet. Ironisch, offen, schnell weggelesen und oft gelacht.

 

Ingo Schulze | Simple Storys | *

"Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz" - sorry, aber ganz entgegen dem Klappentext hat Ingo Schulze keinesfalls den "langersehnten Roman über das ver-einigte Deutschland geschrieben". Deprimierend und größtenteils belanglos.

 

Judith Hermann | Sommerhaus, später | *

Auf S.28 abgebrochen und weggelegt. Muss wohl einen guten Grund dafür gehabt haben - schleppend erzählt, konstruiert, wilde zeitliche Sprünge ohne erkennbaren Grund ...

 

David Sedaris | Nackt | ****

Skurril, schwarz, komisch & tiefsinnig zugleich. Kopfschütteln garantiert. Eine Sammlung schräger (autobiografischer?) Episoden eines amerikanischen Jungen griechischer Einwanderer. Zum Glück gibt es bereits ein Nachfolgebuch mit weiteren Geschichten ("Fuselfieber").

 

Tom Sharpe | Ein dicker Hund | ***

Schräger englischer Humor in einer aber sonst recht hanebüchenen Geschichte.

Ein mit Klebeband eingewickelter Rottweiler, viel degenerierter Adel, ein typisch abgefuckter Cop, eine vertrocknete Puritanerin ... Ich habe viel gelacht, werde das Buch aber schnell zu den mentalen Akten legen.

 

Zoe Jenny | Das Blütenstaubzimmer | *

Wofür hat dieses Buch mehrere Literaturpreise erhalten?!!! Belanglos und triefend erzählt. Was kümmern mich die Pseudoprobleme von 68er-Zöglingen?!!

 

Benjamin Lebert | Crazy | *

Für die Bewertung dieses Buches gibt es zwei Ansätze: (1) wenn man das Alter des damals jungen Autors berücksichtigt (16J.), ist dieses Buch, ist die erzählerische Leistung wirklich bemerkenswert. Wenn sich L. weiterhin so entwickelt ... (2) wenn ich das Buch wie alle anderen in dieser Besprechung bewerte, ist es einfach banal , pubertär und von den sprachlichen Mitteln recht flach. Ich habe es nach der Hälfte weggelegt. Schade.

 

Ulrich Plenzdorf | Legende vom Glück ohne Ende | *

Interessant für mich: Handlungsort ist die Gegend um den Ostbahnhof, ganz in der Nähe unserer jetzigen Wohnung. Weiter interessant: Fakten, Augenblicke, Begriffe, Alltagsszenen aus meiner frühesten Jugend sind hier für die Nachwelt aufgehoben worden. Aber: ich empfinde den Erzählstil als anstrengend, alle Dialoge versinken in einem absatzlosen Text. Fast merkt man dem Text an, dass er von einem Drehbuchautor geschrieben worden ist, so dass er wie ein Plot scheint, der der Einstimmung in die beabsichtigte Stimmung dienen soll ... Auch wenn das Buch ein anerkannter "Klassiker" ist, von mir ein :-(

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